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Verso

Geschichten von Rückseiten

NEUBAU / 01.02.2025–04.01.2026 / Kurator: Bodo Brinkmann

Haben Sie sich je gefragt, was hinter einem Gemälde verborgen sein könnte? Die Ausstellung Verso präsentiert die Rückseiten von Kunstwerken vom 14. bis zum 18. Jahrhunderts und zeigt die verborgenen Ansichten, die normalerweise nur Kurator:innen und Restaurator:innen vorbehalten sind.

Die Ausstellung bringt die Geschichte der Kunstwerke ans Licht, bevor sie ihren Platz im Museum gefunden haben. Sie offenbart, in welchen anderen Kontexten und Funktionen sie verwendet wurden. Zu sehen sind zum Beispiel Flügelaltäre, die dem Kirchenkalender folgend auf- und zugeklappt wurden, Wappen von ehemals Besitzenden oder Bildträger, deren Rückseite wiederverwendet wurden. Ebenso gibt es ein doppelseitiges Werbeschild von Ambrosius und Hans Holbein dem Jüngeren und Werke, die eigens so konzipiert wurden, dass man sie drehen und wenden kann. "Verso" ermöglicht neue Perspektiven auf Kunstwerke sowohl von berühmten Künstlern wie Hans Baldung genannt Grien, Lucas Cranach und Konrad Witz als auch von anderen, welche einen zweiten Blick verdient haben.

Meister von Sierentz, Der Drachenkampf des hl. Georg (Innenseite); Die Beweinung Christi unter dem Kreuz (Aussenseite), Rechter Flügel eines Retabels, um 1445–1450, Kunstmuseum Basel, mit Mitteln der Felix Sarasin-Stiftung erworben, Foto: Martin P. Bühler

Meister von Sierentz, Der Drachenkampf des hl. Georg (Innenseite); Die Beweinung Christi unter dem Kreuz (Aussenseite), Rechter Flügel eines Retabels, um 1445–1450, Kunstmuseum Basel, mit Mitteln der Felix Sarasin-Stiftung erworben, Foto: Martin P. Bühler


Räume

Raum 1: Der Wandelaltar

Taktgeber des Lebens insbesondere im Europa des Mittelalters war der christliche Glaube. Die Messen, Stundengebete und die zahlreichen Feiern zu Ehren von Heiligen rhythmisierten den Alltag der Christ:innen, weltliche Verpflichtungen fanden dazwischen statt. Zudem sollten die Gläubigen die göttliche Herrlichkeit erfahren, um nach diesem Vorbild ein frommes Leben im Diesseits zu führen, wodurch sie auch einen Platz auf der guten Seite im Jenseits erhalten würden – das Kernziel einer jeden weltlichen Existenz. In Prozessionen um Kirchenbauten und ritualisierten Gesten in immer gleichen Abläufen, gepaart mit Gesängen, erlebte die Gemeinde die himmlische Macht auf Erden. Ein zentrales Mittel, um multisensorische Erfahrungsräume der göttlichen Grösse zu kreieren, waren Bilder, denn die meisten Menschen im Mittelalter konnten weder lesen noch schreiben.

Wesentlicher Bestandteil der Liturgie in der Kirche waren die Retabel auf den Altartischen. Diese Aufsätze waren ab dem 12. Jahrhundert seitlich mit auf- und zuklappbaren Flügeln bestückt, die nur an den hohen Feiertagen geöffnet wurden und so den Blick auf den Mittelteil, quasi das Zentrum der christlichen Messfeier, freigaben; in dieser Form wurden die Aufsätze auch als Wandelaltäre bezeichnet. Um in geschlossener wie geöffneter Ansicht ästhetisch zu genügen, mussten die Flügel doppelseitig dekoriert werden.

Ihre wandelbare Form und Nutzung machte die Altäre zu einem beliebten Stiftungsobjekt; denn dank seiner spirituellen Macht und Deutungshoheit über die christliche Doktrin war der Klerus auch weltlich sehr einflussreich. Wer Geld und Macht besass, wollte es sich mit ihm nicht verscherzen. Eine Möglichkeit, sich und der Familie das Seelenheil zu sichern, war das Stiften von Bildern und liturgischen Objekten für Kirchen. Mit solchen Gaben erwarben die Stifter:innen zugleich die Gunst der kirchlichen Würdenträger und festigten schlussendlich ihre weltliche Macht.

Eine solche Stiftung floss erkennbar ins Bildprogramm ein. Beispiel dafür sind die beiden vollständig erhaltenen Altäre, wo ihre Stifter:innen oder Eigentümer:innen einen Platz an prominenter Stelle fanden: Im Vordergrund der Flügelinnenseiten platziert, andächtig zur Mitte hingewandt, schlossen sie sich dezent und doch in vorderster Reihe der Verehrung des Herrn auf der Mitteltafel an.

Diese zwei vollständig erhaltenen Wandelaltäre aus dem Kunstmuseum sind erst ganz am Ende des Mittelalters entstanden. Sie zeigen, welches hohe Mass an Standardisierung ihre Produktion damals erreicht hatte; denn das ikonographische Programm ist fast das gleiche: Das Christuskind wird von den Heiligen Drei Königen angebetet, gerahmt wird die Szene von vorhergehenden (links) und nachfolgenden (rechts) Geschehnissen. Damit war während der Liturgie eine zentrale Episode der Weihnachtsgeschichte sichtbar. Gleichzeitig erlaubt diese Standardisierung heute die wahrscheinliche Rekonstruktion von nur noch teilweise überlieferten Altären. So bei den beiden Seitenflügeln, die keinen Mittelteil mehr haben [Flämischer Meister, 16 Jh.]. Da die Flügel das gleiche Bildprogramm wie das Retabel des Antwerpener Meisters zeigen, wird auf dem Mittelteil ebenfalls die Szene mit der Königsanbetung dargestellt gewesen sein

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Raum 2: Die Altarflügel. Ein Platz für Heilige

Die christliche Hierarchie legt nahe, Themen aus Christus- oder Marien-Vita in der Retabelmitte oder auf den Innenseiten der Flügel zu platzieren und den Heiligen deren Aussenseiten zuzuweisen. Damit wurde die Rangordnung des christlichen Kosmos abgebildet und zugleich in die Liturgie integriert: Wenn der Mesner die Flügel öffnete und so die Heiligen aus dem Blick der Gemeinde nahm, traten Gottessohn und dessen
Mutter an ihre Stellen ins Zentrum der kirchlichen Feiern. Die Wahl der Heiligen, die an den Flügelaussenseiten platziert wurden, spiegelte gesellschaftliche Verhältnisse und Machtkonstellationen wider. Schutzpatroninnen und -patrone von Kirchen oder Orden, aber auch Namenspatroninnen und -patrone von Stifter:innen wurden so platziert, dass religiöse und gesellschaftliche Abhängigkeiten kaum unterscheidbar miteinander verschränkt für die Gemeinde zu sehen waren.

Welche Rolle spielten Heilige im irdischen Leben der Frühen Neuzeit? Gemäss der vorreformatorischen christlichen Lehre kam der Kirche als Bau eine besondere und doch weltliche Funktion zu, denn eine Kirche war das Zuhause von Gott – im buchstäblichen Sinne. Menschen, die das Gebäude betraten, begaben sich in die Wohnstatt Gottes. Somit musste auch deren Ausstattung heilig sein. Bezogen auf die Wandelaltäre bedeutete dies, dass sie vor der Nutzung in der Messfeier geweiht werden mussten. Das Patrozinium konnte sich auf Christus, Maria oder das Kreuz beziehen, vor allem aber auf jede:n Heilige:n des christlichen Kosmos. Entsprechende Reliquien wurden bei der Weihe in einem in den Altar eingebauten Grab beigesetzt. Haupt- und mehrere Nebenpatrozinien, manchmal ein halbes Dutzend bei einem Altar, sind dabei keine Seltenheit. In Kombination treten Heilige meist als stehende Ganzfiguren auf, gekennzeichnet durch ihr Attribut.

Wenn eine einzelne Heilige oder ein einzelner Heiliger, zum Beispiel als Patron:in des jeweiligen Kirchenbaus, besondere Bedeutung geniesst, können auch mehrere Szenen aus seinem:ihrem Leben zusammengestellt werden. So schildern die zwei Flügel vom Meister von St. Sigmund die Disputation und das Martyrium des hl. Erzdiakons Stephanus. Das Retabel, zu dem sie einst gehörten, schmückte mutmasslich eine Stephanskirche oder -kapelle.

Diese Ordnung – für den Altar, Kirchenbau, Stifter:in oder die Gemeinde wichtige Heilige aussen, Maria und Christus innen – lieferte in Form eines Wandelaltars ein eindeutig hierarchisches Bildprogramm, das auf die vor Ort lebenden Menschen zugeschnitten war. Die auf den Flügelaussenseiten dargestellten Heiligen waren an allen Tagen ausserhalb der hohen Festtage sichtbar und somit für das Gebet zugänglich: Handwerker konnten die Patroninnen und Patrone ihrer Berufe adressieren oder Kranke ihre Bitten an Heilige, die vor Gebrechen Schutz bieten sollten, richten. Gestaltete Altaraussenseiten waren damit essenziell, um im Diesseits die Dominanz des Jenseits für alle gesellschaftlichen Stände zu jeder Zeit vor Augen zu führen.

Aber nicht nur spirituell boten die Heiligen Schutz. Im geschlossenen Zustand hielten die Flügel für den Mittelteil schädliche Einwirkungen wie Nässe oder Feuer fern. Im realen und im übertragenen Sinne standen die Heiligen also schützend vor Christus und der Muttergottes. Darin liegt auch die Begründung, weshalb heute oftmals die Seite mit den Heiligendarstellungen von beidseitig bemalten Altarflügeln schlechter erhalten sind: Sie war diejenige, welche vielen schädlichen Einwirkungen ausgesetzt war.

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Raum 3: Relationen: Innen und Aussen / Malerei und Skulptur

Vor der Reformation war die Ausführung von Kunstwerken für Kirchen die wichtigste, wenn nicht gar die einzige, Einnahmequelle für Künstler. Auftraggeber:innen waren entweder der Klerus oder wohlhabende Stifter:innen, die sich bildhaft in die Liturgie einschreiben wollten. Entsprechend vorherrschend sind christliche Themen – und bemerkenswert vielfältig sind deren Ausgestaltungen. In Wandelaltären verschmolzen ab dem 14. Jahrhundert die Kunstgattungen Malerei, Skulptur und Architektur, wodurch die Retabel zu eigenen heiligen Räumen innerhalb der Kirche wurden. Solche Werke gehören heute zu den schönsten, handwerklich reichsten und komplexesten Liturgieobjekten und bezeugen zugleich die Arbeitsteilung im Mittelalter: Die Malerei führte die eine Werkstatt aus, oft war diese für die Gesamtkonzeption des Wandelaltars zuständig, die Schnitzereien wie Skulpturen und Reliefs steuerte eine andere bei. Nur grosse Werkstätten hatten Bildschnitzer und Maler gleichermassen angestellt.

Die hier gezeigten Altäre demonstrieren, dass nicht nur die Bildthemen, sondern auch die Verbindung von Malerei und Skulptur einer Hierarchie unterworfen war. Die Aussen- wie auch die Innenseiten der Flügel waren oft der Malerei, in manchen Fällen Reliefs vorbehalten. Skulpturale Elemente beschränkten sich meist auf den Mittelteil des Altars, manchmal erhielten sie als Reliefs auch einen Platz an einer Flügelinnenseite. Hinterlegt wurden die Skulpturen mit leuchtenden Farben, meist Blau, wodurch sie noch lebendiger und räumlich hervortretender erschienen. So steigerte sich die Bedeutung der Bilder für die Christen beim aufgeklappten Retabel von aussen nach innen in der Räumlichkeit: Die wichtigsten Personen, Christus und Maria, waren vollplastisch ausgeführt, die sie flankierenden Darstellungen als flachere Reliefs oder sogar nur zweidimensional, wenn gemalt.

Zudem transferierten zeitgenössische architektonische Elemente wie ein gotischer Masswerkschleier die abstrakten und historischen christlichen Erzählungen in das Hier und Jetzt der Gemeinde. Die Szene mit Fürbitte und der Probe des ungläubigen Thomas [Konrad Witz (um 1400–um 1445/47), Werkstatt], welche die Werkstatt des Konrad Witz auf einem Altarflügel für einen der zwei Basler Dominikanerinnen-Konvente ausführte, macht diesen Effekt der «Umdatierung» sehr eindrücklich nachvollziehbar.

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Raum 4: Ornament zu Ehren des Herrn

Neben figürlichen und szenischen Darstellungen sind auf Rückseiten von Gemälden auch Ornamente zu beobachten. Diese können organisch sein und sich als Pflanze rückseitig über die Tafel ranken oder in Form von Buchstaben auf einem monochromen Untergrund schweben. An anderen Stellen sind gemalte Imitationen von Stein anzutreffen. Diese beiden Naturelemente, Ranke und Stein, sind schon in zwei zentralen Erzählungen des Alten Testaments wichtig: Mit einer Ranke wurde der Lebensbaum von Jesus, die Wurzel Jesse, verbildlicht und die Zehn Gebote sind meist als Steintafeln dargestellt. Es sind somit spirituell aufgeladene Bilder, welche hier auf den Rückseiten der Altarteile aufgerufen werden und eine ständige Rückkopplung in den Alltag der Betrachterinnen ermöglichen. Gleichzeitig wird die Natur als göttliches Werk zelebriert und in den Bilder Kanon für die Liturgie aufgenommen.

Die malerische Imitation von Stein hat ihren Ursprung in Böhmen und den Niederlanden und kann in ihrer Wirkung ganz unterschiedlich aussehen. Eine Variante war, die Fläche in einer Farbe leicht zu marmorieren und dann mit Tupfern oder schon fast wie Farbspritzer anmutenden Flecken den Effekt eines Minerals zu erzielen. Eine noch edlere Vorlage bot Marmor, dessen charakteristische Äderung, in Malerei übersetzt, eher wie Wasser wirken kann und damit einen Widerspruch zwischen festem Stein und fliessendem Gewässer in sich birgt. Ranken hingegen sind oft auf Werken anzutreffen, die im süddeutschen Raum entstanden sind.

Bei Monogrammen versteckt sich die Anrede Gottes in ornamental gestalteten und angeordneten Buchstaben. Auf den hier gezeigten Exponaten finden sich drei unterschiedliche Monogramme, die aber nur auf zwei Personen verweisen. Als Abkürzung für Jesus steht die Kombination «IHS», «MRA» für Maria. Diese zwei Namen wurden auf den beiden Altarteilen mit der Mannalese und dem Passahmahl zum Kürzel «IM»
kombiniert – Mutter und Sohn verschmelzen zu einer heiligen Einheit. Integriert in den Sternenhimmel und in ständiger Wiederholung werden Christus und Maria selbst zu Himmelskörpern. Das Ornament verbildlicht ihre Heiligkeit und ihren Platz im christlichen Kosmos.

Dekorierte Rückseiten haben aber auch eine ganz praktische Bedeutung für die Werke. Die farbige Beschichtung verhindert, dass der Bildträger aus Holz austrocknet und brüchig wird. Insbesondere das Rankenbild des Wolfgang Katzheimer demonstriert das zerstörerische Resultat, wenn die Bildtafel irgendwann im Laufe der Zeit bricht: Um die zwei Teile wieder zu vereinen, wurde das Rankenwerk abgeschliffen, damit zur Sicherung Holzklötzchen angebracht werden konnten.

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Raum 5: Wappen. Die vornehme Ausweiskarte

Viele Bildnisse identifizieren die Dargestellten ganz einfach mit einer Inschrift auf der Vorderseite. Wenn diese aber aus ästhetischen Gründen frei von einem solchen Hilfsmittel bleiben sollte, etwa, weil ein kleines Format mit möglichst bildfüllender Figur gewählt wurde, dann bot sich die Rückseite an.

Dort kann manchmal der Name des oder der Dargestellten stehen, so wie bei dem altniederländischen Porträt Jakobs von Savoyen (1450–1486) oder dem Bildnispaar Hornlocher/Aeder von Hans Bock. Häufig wurde aber auch nur ein Wappen angebracht wie auf dem Bildnis des Goldschmieds Jörg Schweiger von Ambrosius Holbein. Wappen kennzeichnen im allgemeinen Familien oder Ämter, keine Personen, in diesem Fall die Augsburger Familie Schweiger. Dass es sich hier aber mit grösster Wahrscheinlichkeit um niemand anderen als Jörg Schweiger (um 1470/80–1533/34) handelt, ist aus den Umständen zu erschliessen. Dieser war in Basel zugewandert, wurde dort 1507 in die Zunft aufgenommen und 1508 eingebürgert. Er bürgte für seinen Landsmann Ambrosius Holbein, den Schöpfer des Porträts, als dieser 1518 das Basler Bürgerrecht erhielt.

Die Wappen von Adligen wie Jakob von Savoyen bekrönt im Spätmittelalter ein Spangenhelm, zu erkennen am vergitterten Visier. Bei Bürgerlichen wie Schweiger tritt der Stechhelm mit schmalem Sehschlitz an dessen Stelle. Frauen führen das Wappen ihres Vaters, und wenn sie heiraten, kommt es zu einer sogenannten Allianz: Die Wappen beider Familien werden vereint. Dies ist der Fall beim Bildnispaar von Hans Bock, aber auch beim Bildnis Johann Friedrichs des Grossmütigen von Lucas Cranach d. Ä.. Daraus kann mit Sicherheit geschlossen werden, dass zu dem Täfelchen ein Pendant mit Johann Friedrichs Gattin Sibylle von Kleve gehört hat. Andere Versionen dieses Bildnispaares haben sich vollständig erhalten, zum Beispiel im Statens Museum for Kunst in Kopenhagen.

Schliesslich trägt auch Hans Pleydenwurffs Tafel mit dem Schmerzensmann ein Wappen auf der Rückseite; denn sie war ursprünglich mit einem Bildnis ihres Auftraggebers zu einem Diptychon verbunden. Heute befindet sich das Porträt des aus dem Gebet aufblickenden Bamberger Domherren Georg Graf von Löwenstein (um 1375–1464) im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Sein Wappen auf der Basler Tafelrückseite ist sogar ein sogenanntes «Sprechendes Wappen», das wie ein Rebus den Familiennamen ins Bild übersetzt: ein Löwe auf einem Stein (Stein im Sinne von Fels oder Berg).

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Raum 6: Spätere Umgestaltung

Häufig sind Rückseiten auch nachträglich modifiziert worden, manchmal bald nach der Lieferung eines Werkes, manchmal Jahrhunderte später.

Den wahrscheinlich kürzesten Zeitraum zwischen der Bemalung der Vorder- und der Rückseite weist das Bildnisdiptychon des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen und seiner Gemahlin auf. Hans Holbein d. J. hat die Vorderseite 1516 datiert, ein unbekannter Maler das Wappen Meyers auf der Rückseite auf 1520.

Das älteste Stück in der Sammlung, die kleine Flügelhälfte eines sogenannten Baldachinaltars, dessen Flügel ursprünglich eine Skulptur umschlossen, wurde um 1350/60 für das Nürnberger Kloster der Klarissen geschaffen. Die Kreuzigung und die fragmentierte Szene darüber auf der Aussenseite sind wesentlich schlichter gemalt als die Innenseite und stilistisch etwas später, gegen Ende des 14. Jahrhunderts, zu datieren. Es ist gut möglich, dass diese Arbeiten im Kloster selber ausgeführt wurden, vielleicht sogar von einer der Ordensschwestern. Denn die dichte historische Überlieferung zum Konvent beschreibt diese als selbstbewusste und durchaus eigensinnige Frauen, die sich etwa von der Feier einer äusserst ungewöhnlichen Votivmesse zu Ehren der beiden Johannes, die hier dargestellt sind, nicht abbringen liessen.

Das zierliche Diptychon mit Christus und Maria, das ein niederländisches Vorbild aus dem Umkreis Jan van Eycks kopiert, wurde wahrscheinlich von Hans von Hallwil (1433/34–1504) um 1480 in Frankreich in Auftrag gegeben. Dort diente Hallwil von 1478 bis 1483 als Kommandeur der Schweizer Söldner am Hofe König Ludwigs XI. Im Erbgang erhielt offenbar ein Nachfahre das Stück und liess 1511, vielleicht anlässlich seiner eigenen Vermählung, rückseitig sein Familienwappen und dasjenige der Brautfamilie als Besitzvermerk anbringen.

Die zwei mit der Königsanbetung bemalten Flügel einer Orgel verraten ohne weiteres ihre ursprüngliche Funktion; denn sie waren einst beinahe trapezförmig zugeschnitten und deckten den offenbar annähernd rhombischen Pfeifenkörper ab. Die Rückseite schmückt heute eine Darstellung der Verkündigung aus dem 17. Jahrhundert. Neue Untersuchungen haben den Verdacht bestätigt, dass diese eine wohl originale Verkündigung ersetzt, dabei aber die Positionierung von Erzengel und Jungfrau Maria vertauscht.

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Raum 7: Nachträgliche Inschriften

Inschriften von kalligrafischer Qualität können ein Bild in ein Denkmal verwandeln. In beiden hier gezeigten Fällen ist dies nachträglich geschehen.

Das Porträt des David Joris zeigt ihn als vornehm gekleideten Edelmann. Joris zog im Jahr 1544 unter falschem Namen nach Basel und brachte seine grosse Familie wie auch zahlreiche Anhänger:innen seiner wiederaufrichten Glaubensbewegung mit. Dass er als Ketzer und Sektenführer gesucht wurde, verheimlichte er. Seine religiösen Überzeugungen lebte er heimlich aus; der Basler Gesellschaft erschien er bis zu seinem Ableben 1556 als wohlhabend und rechtschaffen.

Drei Jahre nach seinem Tod kam sein Geheimnis ans Tageslicht. Die Basler Reaktion: Joris wurde postum als «Erzketzer» verurteilt, seine sterblichen Überreste exhumiert und verbrannt. Diese Vorgänge werden in der rückseitigen Inschrift auf seinem Bildnis auf Lateinisch und Deutsch erzählt. Mit ihr wird das Porträt des Wiedertäufers über den Tod hinaus erweitert und zu einem Gedächtnis in Bild und Schrift: Die Vorderseite zeigt den falschen Edelmann und sein Äusseres; die Rückseite dokumentiert sein wahres Wesen.

Weniger spektakuläre Informationen liefert die Rückseite der Tafel mit der hl. Barbara. Die Inschrift gibt das Todesdatum der am 4. Mai 1509 verschiedenen Bärbel Jungermann an, gefolgt von einer formelhaften Fürbitte für sie. Das Bild ihrer Namenspatronin diente also als Epitaph, als Gedächtnistafel für die Verstorbene. Epitaphien werden in den meisten Fällen an einer Wand oder einem Pfeiler angebracht; es stellt sich die Frage, wie eine rückseitige Inschrift überhaupt hätte gelesen werden können. Auf den ersten Blick wirken Inhalt und Schriftduktus authentisch für das frühe 16. Jahrhundert. Bei genauerem Hinsehen fallen aber Unsicherheiten wie die leicht unregelmässige Grundlinie und die leicht nach rechts oder links kippenden Buchstaben auf. Dies ist typisch für den Schriftduktus eines Kopisten, der eine vorhandene Inschrift nicht nur zeichengetreu, sondern auch stilistisch identisch zu übertragen versucht, sie gleichsam ‹abmalt›. Anscheinend wurde hier also eine originale Inschrift von 1509, die sich beispielsweise auf dem heute nicht mehr vorhandenen ursprünglichen Rahmen befunden haben könnte, irgendwann zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert auf der Rückseite archiviert – sehr zu unserem heutigen Nutzen.

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Raum 8: Drei Sonderfälle

Ganz unterschiedliche Zwecke hatten die Rückseiten der drei in diesem Kapitel präsentierten Werke. In allen Fällen wurden sie jedoch ganz bewusst von den Künstlern dazu benutzt, etwas höchst Besonderes zu kreieren.

Die Rückseite von Pieter Snyers’ Stillleben ist ein Beispiel dafür, dass diese auch die Vergänglichkeit der Vorderseite markieren kann. Der Flame verwendete die zuerst als Kupferstichplatte genutzte Tafel wieder und bemalte die Rückseite. Vom Kupferstich konnten nach rund 150 Jahren keine guten Drucke mehr abgezogen werden, zu beschädigt war die Platte. Aber ihre Rückseite war ganz glatt und eignete sich hervorragend dazu, bemalt zu werden – aus der Rück- wurde die neue Vorderseite. Heute nennen wir eine solche Wiederverwendung «Upcycling».

1516 schufen die Brüder Ambrosius und Hans Holbein d. J. gemeinsam ein Pseudo-Aushängeschild, das so aussah, als sollte es vor dem Haus eines Schulmeisters hängen. An einer Fassade wurde es aber nie angebracht; denn dazu ist es zu gut erhalten. Es verstecken sich einige witzige Details in den zwei Darstellungen: So hat der Knirps auf der Kinderseite zur Übung die Buchstaben des ganzen Alphabets beschrieben, nur das «h» – wie Holbein – hat er ausgelassen. Man darf annehmen, dass es sich bei der Tafel um ein Scherzgeschenk handelte, welches die Gebrüder ihrem Freund und Lehrer Oswald Geisshüsler, genannt Myconius, machten, als er 1516 Basel verliess. Mit ihrer Spaltung im 18. Jahrhundert wurde die Autonomie der Seiten besiegelt: Beide konnten nun wie Gemälde aufgehängt werden.

Ebenso eigenständig und doch zusammengehörig sind die beiden Darstellungen von Niklaus Manuel Deutsch. Vorne ist die badende Bathseba gezeigt, rückseitig der Tod mit einer jungen Frau. Nicht nur den Bildträger teilen sie, sondern auch den Trompe-l’Œil-Effekt. Sie imitieren Helldunkelzeichnungen auf farbig getöntem Papier und «trügen so das Auge», wie der französische Fachausdruck übersetzt lautet. Niklaus Manuel versprach mit dieser Nachahmung die Leichtigkeit von Papier, die die Holztafel nicht einlösen kann: Die Überraschung kommt, wenn man das Werk in die Hände nimmt. Sie lädt gleichzeitig dazu ein, das Objekt nun zu wenden, um seine Rückseite zu erkunden. Der Künstler spielt mit dem doppelseitigen Format des Bildträgers, indem er mit der Szene der nackten Bathseba eine erotische Ansicht anbot, die von der Frau auf der Rückseite, welche vom Tod körperlich sehr explizit bedrängt wird, noch übertrumpft wird. Derartige Darstellungen waren natürlich dem privaten Bereich vorbehalten. Es liegt nahe, dass Niklaus Manuel Deutsch das doppelseitige und doppelt erotische Werk für eine zeitgenössische Kunst- und Wunderkammer geschaffen hat.

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Künstler:innen: Hans Baldung genannt Grien, Hans Bock der Ältere, Jacob Cornelisz. van Oostsanen, Lucas Cranach der Ältere, Hans Fries, Hans Holbein der Jüngere, Ambrosius Holbein, Wolfgang Katzheimer der Ältere, Niklaus Manuel genannt Deutsch, Hans Pleydenwurff, Jan Polack, Pieter Snyers, Tobias Stimmer, Konrad Witz und weitere

Veranstaltungen zur Ausstellung

Mi 19 März

FÜHRUNG

NEUBAU
10:15–12:00

Mittwoch-Matinée: Blick auf die Rückseiten

AUSGEBUCHT

Ein Ausstellungsrundgang durch die Wechselausstellung «Verso» mit Einblicken zu den üblicherweise verdeckten Rückseiten von Kunstwerken des 14. bis 18. Jahrhunderts. Kosten: CHF 10 / bis 16 Jahre: CHF 5. Beschränkte Platzzahl.

So 23 März

FÜHRUNG

NEUBAU
15:00–16:00

Führung in der Ausstellung «Verso. Geschichten von Rückseiten»

Kosten: Eintritt + CHF 7

So 27 Apr

FÜHRUNG

NEUBAU
15:00–16:00

Führung in der Ausstellung «Verso. Geschichten von Rückseiten»

Kosten: Eintritt + CHF 7

Mi 30 Apr

FÜHRUNG

NEUBAU
18:30–19:30

Kuratorinnenführung in der Ausstellung «Verso. Geschichten von Rückseiten»

Mit der Assistenzkuratorin Rahel Müller. Kosten: Eintritt + CHF 7